Das Interdikt in der europäischen Vormoderne. Internationale Konferenz

Das Interdikt in der europäischen Vormoderne. Internationale Konferenz

Organisatoren
Tobias Daniels, Ludwig-Maximilians-Universität München; Christian Jaser, Humboldt-Universität zu Berlin; Thomas Woelki, Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Venedig
Land
Italy
Vom - Bis
27.04.2017 - 29.04.2017
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Von
Henrike Liv Vallentin, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Das Interdikt als flächendeckender Boykott von Sakralhandlungen stellt neben der Exkommunikation die wichtigste Kirchenstrafe des Mittelalters dar und gehört fest zur Alltagswirklichkeit der mittelalterlichen Gesellschaft Europas. In der Forschung fand das Interdikt bislang jedoch nur wenig Beachtung und zählt damit zu den rätselhaftesten Erscheinungen der vormodernen Kanonistik und Frömmigkeitsgeschichte, deren historische Bedeutung und Ausmaße nicht einmal ansatzweise bekannt sind. So war das erklärte Ziel der internationalen Tagung „Das Interdikt in der europäische Vormoderne”, einer interdisziplinären Zusammenkunft von Rechtshistorikern und Historikern des Mittelalters und der frühen Neuzeit, dieses Desiderat durch neue Forschungsperspektiven und -fragen einzulösen. Das Interdikt wurde dabei als kanonistisches Problem, städtisches Phänomen zwischen Observanz und Widerstand sowie als publizistischer Streitfall betrachtet. Diese Dreiheit der Perspektiven spiegelte sich auch in der Einteilung der Sektionen wider.

Nach der Einführung der Tagungsveranstalter Tobias Daniels, Christian Jaser und Thomas Woelki eröffnete KERSTIN HITZBLECK (Ahrensburg) die erste Sektion mit einem Beitrag zum Interdikt im Spätmittelalter als Katalysator individueller Gewissensentscheidungen. Das Interdikt als Kollektivstrafe, quasi religiöse Sippenhaft, sei von Gläubigen und Kirchenpersonal nicht selten als Ungerechtigkeit und Gefahr für die Christenheit wahrgenommen worden, was oftmals zur Nichteinhaltung ergangener Sentenzen führte. Hitzbleck machte in ihrem Vortrag auf die Relevanz der persönlichen Gewissensentscheidung in einem solchem Dilemma aufmerksam und eröffnete der Interdiktsforschung damit die mentale Dimension der Kirchenstrafe.

BERNARDO PIERI (Bologna) demonstrierte am Beispiel eines Consilium des berühmten Juristen Paolo da Castro die besondere Innovationskraft dieses Genres für die Rechtsfortbildung. Hierbei erwies sich insbesondere, dass die in der Forschung weitgehend als getrennte Phänomene betrachteten Rechtsfiguren des Interdikts im römischen und kanonischen Recht in der Praxis durchaus kollidieren konnten. Die rechtsgeschichtliche Erforschung des Interdikts sollte künftig stärker die Perspektive des utrumque ius berücksichtigen.

THOMAS WOELKI (Berlin) befasste sich in seinem Vortrag mit der Rechtspraxis des Interdikts im Spätmittelalter. Der Kardinal und Bischof Nikolaus von Kues als gelehrter Kanonist und erfahrener Interdiktsverhänger diente als mustergültiges Fallbeispiel, anhand dessen Woelki die enormen Auslegungsspielräume des Kirchenrechts in der alltäglichen Anwendung zeigen konnte. Das Interdikt erschien dabei als politisches Machtmittel in der Auseinandersetzung mit weltlichen Herrschern und aufsässigen Nonnen, wobei die Kanonistik den Referenzrahmen bildete und als wichtiges Legitimationsreservoir diente. Woelki konnte in diesem Zusammenhang zeigen, dass das Interdikt nie am Ende der Eskalationskette von Kirchenstrafen stand, sondern als Schritt in einem Aushandlungsprozess zu verstehen sei.

Anhand des bislang kaum bekannten Kommentars des spanischen Juristen Diego de Covarrubias zu der Dekretale ‚Alma mater‘, der wohl wichtigsten Interdiktsdekretale überhaupt, zeigte GIOVANNI CHIODI (Mailand) die besondere Dynamik und Fruchtbarkeit der Rechtsfortbildung in der frühmodernen Kanonistik auf. Detailfülle und Präzision der juristischen Kasuistik übertrafen auch den bis dahin als uneingeschränkte Autorität geltenden Interdiktstraktat des Giovanni Calderini und zeugen von einer nach wie vor anhaltenden Praxisrelevanz juristischer Expertise in der frühen Neuzeit.

ROMEDIO SCHMITZ-ESSER (Graz) befasste sich in seinem Beitrag mit einem zentralen Element der Interdiktsfolgen: Dem Ausschluss von der Bestattung. Dabei hob Schmitz-Esser zunächst die im Mittelalter zunehmende Bedeutung des Begräbnisses auf dem geweihten Kirchhof für Gläubige hervor, welche durch Interdiktsverhängung in Gefahr geriet. Die Effektivität der Bestimmung zur Einstellung christlicher Beisetzungen in Zeiten des Interdikts könne jedoch aufgrund schweigender Quellen meist nur schwer nachvollzogen werden, wobei die Praxis der Erteilung von Sonderechten zumindest als Hinweis auf diffuse Ängste der Bevölkerung vor Einstellung der Bestattung zu verstehen sei. Die Privilegienvergabe habe dabei zu einer Stärkung der politischen Autorität des Papstes geführt, welche jedoch einherging mit einer großen Rechtsunsicherheit im Umgang mit dem Interdikt.

In einem öffentlichen Abendvortrag, vor einem größeren Publikum, sprach PETER D. CLARKE (Southampton) über die theoretische Differenzierung von Interdiktarten und deren praktischer Anwendung, welche er an dem Fallbeispiel der interdizierten Stadt San Gimigiano verdeutlichte. Clarke plädierte für eine stärkere interdisziplinäre Entwicklung in der Interdiktsforschung und für eine Abkehr von der Konzentration auf große politische Ereignisse und die päpstliche Perspektive. In seinem Schlusswort wies Clarke nachdrücklich auf die immense Bedeutung des Interdikts in der mittelalterlichen Lebenswelt hin, welche durch Historiker weit stärker als bisher beachtet werden müsse.

Die zweite Sektion zum städtischen Interdikt zwischen Einhaltung und Protest wurde von JOHANNES HELMRATH (Berlin) mit einem Vortrag zum Interdikt in der urbanen Lebenswelt des späteren Mittelalters begonnen. Helmrath ging insbesondere auf die Praktiken und Routinen des Interdikts vor Ort, Alltagsfolgen und Reaktionen der Betroffenen ein, die er als Phänomenologie darstellte. Ein Anliegen seines Vortrages war die Auseinandersetzung mit der weitläufigen Annahme einer zunehmenden Abnutzung des Interdikts infolge eines Erosionsprozesses kirchlicher Macht im späten Mittelalter. Dabei konnte Helmrath darlegen, dass gerade die Betrachtung von Einzelfällen zeige, dass Dauer, Frequenz und Wirkmächtigkeit des Interdikts nicht abnehmen, sondern ihr Störpotenzial weiterhin entfalten. Ähnlich wie Clarke verwies auch Helmrath auf die enorme Relevanz des Interdikts für die Gesellschaft der europäischen Vormoderne und beanstandete die weitgehende Nichtachtung des Phänomens in der Erforschung der Stadtgeschichte. Als methodischen Ansatz für künftige Interdiktsforschung sprach sich Helmrath für diachrone Geschichtsdarstellung einhergehend mit einer größtmöglichen Vernetzung von Forschungsergebnissen aus.

UWE ISRAEL (Dresden) widmete seinen Vortrag den zahlreichen mittelalterlichen Interdikten, welche die Stadt Venedig in regelmäßiger Folge bedrückten. Meist ein Resultat eines Konflikts mit dem Papst in Rom, hatte das Interdikt besonders für den Handel und die Versorgung der Wirtschaftsmetropole katastrophale Folgen. So zeigte Israel eindrücklich die erheblichen finanziellen und ökonomischen Konsequenzen der Interdiktsverhängung für betroffene Städte. Der Verdienst von Israels Betrachtung des Fallbeispiels Venedig liegt in der Hinwendung der Forschungsperspektive auf wirtschaftliche Faktoren, abseits der gängigen Frömmigkeitsmotive.

Den Interdikten über die Stadt Köln zwischen 1250 und 1350 wandte sich CHRISTIAN JASER (Berlin) in seinem Beitrag zu. Jaser widmete seinen Vortrag der Frage, wie die Interdikte als Produkt erzbischöflich-städtischer Auseinandersetzungen von der Bevölkerung und dem Klerus der Stadt, sowie dem Stadtregiment erlebt, bewältigt oder gar konterkariert wurden. Zentrales Element war hierbei die Untersuchung von Widerstandsformen, kirchenpolitischer Selbsthilfe und frömmigkeitspraktischem Eigensinn. So konnte Jaser zeigen, dass das Interdikt trotz seiner potenziellen Störkraft durch ein selbstbewusstes Gemeinwesen mit festen Loyalitätsbindungen des Pfarrklerus zur Stadt und geschickte Strategien des Widerstands umgangen werden konnte. Darüber hinaus führten die Interdikte über Köln zur Stärkung des Stadtregiments als Garant für die Heilsvorsorge der städtischen Bevölkerung und wirkten somit kontraproduktiv.

Den Auftaktvortrag zur dritten Sektion hielt MARTIN KAUFHOLD (Augsburg) zum publizistischen Kampf um das Interdikt gegen Ludwig den Bayern (1324-1347). Kaufhold machte auf die Schwierigkeiten bei der Publikation des Interdikts wegen unzureichender Lateinkenntnisse und mangelndem Verständnis der Prozessberichte unter den niederen Geistlichen aufmerksam. Aufgrund der erschwerten Verständigung herrschte eine große Rechtsunsicherheit, die eine publizistische Gegenkampagne Ludwigs und seiner Anhänger geschickt nutzte. Kaufhold stellte die These auf, dass Ludwigs Kampagne gegen das päpstliche Interdikt fatale gesellschaftliche Folgen gehabt habe. Die Vertreibung Papsttreuer und Interdiktsbeachter mittels Gewaltanwendung, die durch Propaganda Ludwigs befeuert wurde, habe eine Dynamik in Kraft gesetzt, welche in Judenverfolgung und Gewalteskalation in den Städten gipfelte. So sei der publizistische Kampf Ludwigs gegen das Interdikt als Akt der Mobilisierung von Gewalt zu verstehen.

HEIKE JOHANNA MIERAU (Erlangen) ging in ihrem Vortrag auf das Interdikt als Konfliktmittel gegen Kaiser Friedrich II. und seine propagandistische Wirkung ein. Das Interdikt erschien dabei als wichtiges machtpolitisches Mittel in der Auseinandersetzung zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre einhergehend mit einer großen Öffentlichkeitswirksamkeit. Mierau beleuchtete dabei die Perspektive Friedrichs II. und seine Reaktion auf das Interdikt in Form einer umfangreichen, europaweiten Kampagne, welche als Propagandafeldzug zu verstehen sei. Die Ausdifferenzierung von Exkommunikation und Interdikt stellte sich in Mieraus Fallbeispiel als durchaus kompliziert dar.

In seinem Vortrag zum Interdikt in Florenz von 1478 bis 1480 ging TOBIAS DANIELS (München) der Frage nach, wie ein zwar strukturell mit dem Papsttum eng verflochtenes, aber überaus selbstbewusstes Gemeinwesen auf die Verhängung des Interdikts politisch reagierte. Daniels stellte dabei die publizistische und öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung des Medici-Regimes mit dem Interdikt als zentrales Element der Wahrung der politischen Kontrolle über die kirchliche Sphäre in Florenz dar. Abseits punktueller Betrachtungen des Florentiner Interdikts sprach sich Daniels zudem für eine Untersuchung der politischen Verhältnisse zwischen Florenz und dem Papsttum in der langen Dauer aus, die ein besseres Verständnis der Florentiner Interdikte ermögliche.

Der Beitrag von MASSIMO ROSPOCHER (Trient) zeigte am Beispiel Papst Julius II., der geradezu serienmäßig Interdikte verhängte, die ungeheure Bandbreite und Wirkmächtigkeit der publizistischen Dimension dieser Kirchenstrafe, die vom Bullenanschlag an öffentlichen Orten über die öffentlich inszenierte Verlesung bis hin zur massenhaften Verbreitung im Druck sowie Übersetzungen in die Volkssprachen und bildhaften Illustrationen reichte. Die politische Auseinandersetzung mit dem Interdikt geriet so zu einer Propagandaschlacht um die öffentliche Meinung.

Mit einem Interdiktsfall der frühen Neuzeit in Venedig und dessen Rezeption durch Paolo Sarpi beschäftigte sich JASKA KAINULAINEN (Helsinki) in seinem Beitrag, welcher zugleich den Abschluss der Tagung bildetet. Kainulainen illustrierte nach einer Darstellung des venezianischen Interdikts von 1606/7 den publizistischen Kampf Paolo Sarpis gegen das Interdikt und die päpstliche Macht. Sarpi erschien dabei als vehementer Gegner, aber auch bedeutender Theoretiker und Historiker des Interdikts.

Die Konferenz konnte zeigen, dass das Interdikt als ein evidenter Bestandteil der mittelalterlichen Lebenswelt und zentrales Element der Konfliktgeschichte zu begreifen sei. In den Bereichen der Kanonistik, Stadtgeschichte und Publizistik wurden einerseits wichtige Fortschritte erzielt und andererseits Leerstellen in der Forschung offenbart, die es künftig zu füllen gilt. Kontrovers wurde vor allem die Wirkmächtigkeit des Interdikts diskutiert.

Konferenzübersicht:

Tobias Daniels (München) / Christian Jaser (Berlin) / Thomas Woelki (Berlin): Begrüßung und Einführung

Sektion I: Das Interdikt als kanonistisches Problem

Kerstin Hitzbleck (Ahrensburg): „Facta relaxatione interdicti, deridebant presbyteros celebrantes.” Das Interdikt im Spätmittelalter als Katalysator individueller Gewissensentscheidungen

Bernardo Pieri (Bologna): Il caso di denegato interdetto in un consilium de causa criminali di Paolo da Castro

Thomas Woelki (Berlin): Cusanus und das Interdikt. Norm und Praxis

Giovanni Chiodi (Mailand): L'interdetto nella canonistica dell'età moderna. Il contributo di Diego de Covarrubias

Romedio Schmitz-Esser (Graz): Der Diskurs um den Ausschluss von der Bestattung als Affirmation christlicher Gemeinschaft

Peter D. Clarke (Southampton): „No one was to be born or die or marry (except in Church porches).” What an interdict really meant and why it mattered in premodern Europe. Current research and future perspektives

Sektion II: Städtische Interdikte zwischen Observanz und Widerstand

Johannes Helmrath (Berlin): Das Interdikt in der städtischen Lebenswelt des späten Mittelalters

Uwe Israel (Dresden): Altera Roma? Die Folgen von Exkommunikation und Interdikt im mittelalterlichen Venedig

Christian Jaser (Berlin): Unheiliges Köln? Interdikte über Köln und ihre Bewältigung im Kontext erzbischöflich-städtischer Auseinandersetzungen (1250-1350)

Sektion III: Das Interdikt als publizistischer Streitfall

Martin Kaufhold (Augsburg): Der publizistische Kampf um das päpstliche Interdikt über Deutschland (1324-1347)

Heike Johanna Mierau (Erlangen): Das Interdikt als Konfliktmittel gegen Kaiser Friedrich II. und seine propagandistische Wirkung

Tobias Daniels (München): Florenz und das Interdikt 1478-1480

Massimo Rospocher (Trient): Papst Julius II. und das Interdikt im Spiegel der kritischen Publizistik

Jaska Kainulainen (Helsinki): Paolo Sarpi and the Venetian Interdict of 1606/7


Redaktion
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch, Italienisch
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